Egon Wellesz – Komponist, Musikwissenschaftler und Byzantinist

Biographie
  1. Curriculum Vitae (PDF)

  2. Komponist

  3. Musikwissenschaftler

  4. Byzantinist


 
 Egon Wellesz - ein Klassiker der Moderne


 

Hätte Anfang März 1938 in Österreich eine Umfrage stattgefunden, wer zu den bedeutendsten lebenden Komponisten unseres Landes zu zählen sei, wäre allenthalben sehr schnell der Name Egon Wellesz gefallen. Soeben hatten die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Bruno Walter seine Symphonische Suite "Prosperos Beschwörungen" zur Uraufführung gebracht, weitere Aufführungen des Werkes standen (wieder unter Walter) durch das Amsterdamer "Concertgebouw-orkest" (wie es sich damals schrieb) bevor, und zwar am 13. (Amsterdam) und 16. März (Rotterdam). Zwei Jahre vorher hatten die Philharmoniker (unter Felix Weingartner) Wellesz' "symphonisches Stimmungsbild" "Vorfrühling" in ihr Programm aufgenommen, und 1931 sowie 1932 ging seine Oper "Die Bakchantinnen" nach Euripides sogar in der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Direktor Clemens Krauss über die Bühne. Schließlich waren 1934 und 1935 im "Anbruch", der wichtigsten Zeitschrift für den Bereich der modernen Musik, zwei große Artikel über den Komponisten erschienen, in denen er ein geradezu überschwengliches Lob als "Musiker, der sich der Verantwortung des schöpferischen Künstlers in hohem Maße bewußt gewesen ist", erfahren hatte sowie als Meister, in dessen Oeuvre "die Grundelemente der Musik neu erlebt und neu in Zusammenhang zueinander gebracht werden: Melodie, Harmonie und Rhythmus".

1938 erinnerte man sich in Wien zudem noch ganz genau, daß Wellesz bis vor wenigen Jahren auch in Deutschland einer der meistgespielten zeitgenössischen Komponisten gewesen war - bis der allgemeine Gesinnungsterror auch der Freiheit der Kunst endgültig ein Ende bereitet hatte. Die Oper "Alkestis" etwa war nach ihrer Mannheimer Premiere von 1924 noch in Hannover, Bremen, Gera, Köln, Dessau, Stuttgart, Coburg sowie Berlin über die Bühne gegangen, der Einakter "Scherz, List und Rache" in Stuttgart (1928), Magdeburg, Dortmund, Lübeck, Görlitz sowie Berlin (aber auch in Salzburg, Wien und Linz), das Arnold Schönberg gewidmete "Persische Ballett" in Donaueschingen (1924), Münster, Mannheim, Gera, Darmstadt, Stuttgart, Saarbrücken sowie Mainz, und auch die Ballette "Das Wunder der Diana", "Achilles auf Skyros", "Die Nächtlichen" sowie "Die Opferung des Gefangenen" waren 1924 bzw. 1926 in Deutschland aus der Taufe gehoben worden. Noch 1932 hatte Hermann Abendroth in Köln die Kantate "Mitte des Lebens" auf das Programm gesetzt, die von Wellesz der Universität Oxford zum Dank für das soeben erhaltene Ehrendoktorat zugeeignet worden war: "Hoc opus Universitati Oxoniensi d. d." Ein Jahr später war in Deutschland aus dem gefeierten Komponisten ein verfemter bzw. "entarteter" geworden.
März 1938 erlitt Egon Wellesz dieses Schicksal nun auch noch ganz persönlich. Er kehrte von den Niederlanden wohlweislich nicht mehr nach Österreich zurück und konnte bereits eine Woche später eine Einladung nach London annehmen, die zunächst dem Wissenschaftler galt und ihm schließlich eine Berufung an die Universität Oxford eintrug. Nachdem seine Familie (Gattin Emmy, eine bedeutende Kunsthistorikerin, sowie die Töchter Magda samt ihrem Gatten und Elisabeth) Juli 1938 "nachemigriert" war und sich Wellesz schließlich in Oxford akklimatisiert hatte, begann er nach fünfjähriger Pause, 1943, auch wieder zu komponieren. Dennoch: Der politisch bedingte Bruch seiner schöpferischen Laufbahn sollte nie wieder vollständig überwunden werden. Seine Bühnenwerke fanden auch nach 1945 kaum mehr Aufnahme in die Spielpläne, und selbst die Instrumentalmusik war vielen Konservativen nach wie vor zu modern; die neue Avantgarde hingegen verwarf sie als "gestrig" und befand sie für unakzeptabel. Das führte letzten Endes so weit, daß der Mitbegründer der "Internationalen Gesellschaft für Neue Musik" 30 Jahre nach seiner epochalen Tat auf den Festivals seines Schmerzenskindes nicht mehr gespielt wurde.

Der tiefe Bruch in Wellesz' Weg als Komponist dokumentiert sich auch in der Wahl der Gattungen und Sujets. Hatte Wellesz bis 1938 vor allem zeitlos gültige Stoffe aus der griechischen Antike in Bühnenwerke einfließen lassen und aus der Auseinandersetzung mit diesen Themen humanistisch-weltanschauliche Aussagen von musiksprachlicher Schlagkraft gewonnen, so verstummte der Theaterkomponist Egon Wellesz bald für immer (wenn man von der Oper "Incognita" von 1951 einmal absieht). An seine Stelle trat der Schöpfer von Symphonien sowie von Kammermusik, aber auch von Liedern und geistlicher Musik, als wenn an die Stelle der extrovertierten Bühne das Refugium von "absoluter" und intimer, zutiefst persönlicher Musik treten sollte. Und dieser Wandel war zugleich eine Rückkehr zu den Wurzeln der Wellesz'schen Musiksprache und daher zum Idiom der österreichischen Tradition, zu welchem sich der Komponist gerade in seiner englischen Zeit immer wieder vehement bekennen sollte.

Denn Wellesz, der am 21. Oktober 1885 in Wien geboren wurde, stand stilistisch zunächst noch vornehmlich unter dem Einfluß von Anton Bruckner und Gustav Mahler, ehe er unter dem Einfluß seines Kompositionslehrers Arnold Schönberg die Tonalität verließ und sich einer expressiv-gestischen Tonsprache zuwandte, einer Tonsprache, die dabei nie jenen "Sprachcharakter" aufgab, den etwa Schönberg oder Webern immer (speziell auch unter semantischen Aspekten) in emphatischer Weise einforderten. Dabei ging es ihm, der sich auch wissenschaftlich speziell mit dem Problem der Oper und ihrer Aussage-Möglichkeiten beschäftigt hatte, nach eigener Aussage vornehmlich um die "Darstellung des Gefühlhaften", ja des "Triebhaften der Empfindung", und dies in möglichst allgemein gültiger und allgemein verständlicher Weise. Und das führte in seinem Falle, der er überzeugter und wissender Vertreter der damals noch allenthalben hochgehaltenen humanistischen Bildung war, geradezu zwangsläufig dazu, daß er Sujets aus der griechischen Antike auf die Bühne stellte.
In dieser Beziehung "fand sich" unser Komponist unter anderem mit Igor Strawinsky, Darius Milhaud oder Josef Matthias Hauer, und eine weitere interessante Beziehung ergab sich zum Bühnenoeuvre von Richard Strauss, da Wellesz wie dieser einige Sujets bzw. Libretti von Hugo von Hofmannsthal in Musik setzte. 1911/12 hatte Wellesz mit seinen "Eklogen" für Klavier zum ersten Mal die Welt der Antike angesprochen, 1917 ließ er das Ballett "Das Wunder der Diana" folgen, dann beschwor er mit seinem "Persischen Ballett" von 1920 orientalische Sphären und betrat 1921 mit dem Ballett "Achilles auf Skyros" nach Hofmannsthal endgültig die Welt der griechischen Mythologie. 1922/23 folgte, wieder ein Libretto Hofmannsthals verarbeitend, die "Alkestis" nach Euripides, und schließlich setzte 1929/30 die Oper "Die Bakchantinnen" nach Euripides, deren Text der Komponist selbst eingerichtet hat, den diesbezüglichen Schlußpunkt.

Als Wellesz in der englischen Emigration wieder zu seinem Schaffen fand, spürte er dann, nicht zuletzt aus naheliegenden autobiographischen Gründen, in immer stärkerem Maße der
Ausdruckswelt der europäischen und speziell der österreichischen Musikgeschichte nach, und auch dies in Übereinstimmung mit Synthese-Tendenzen der internationalen "klassischen Moderne", wenn man nur wieder an Strawinsky, Hindemith, Milhaud oder selbst an Arnold Schönberg denkt, der ebenfalls zu den traditionellen Formen von Oper, Konzert und Variation fand und lediglich die Symphonie aussparte.

Dieser Gattung verschrieb sich hingegen Egon Wellesz in besonderem Maße, da ihm, der er "in der österreichischen Musiktradition aufgewachsen" war, "die Symphonie immer als das höchste Medium der musikalischen Aussprache erschien", wie er angesichts seiner "Ersten" von 1945 selbst bekannte. Er hatte sich nur viele Jahre "nicht an diese Form herangewagt, weil ich zu ihr nicht die nötige Distanz gewonnen hatte, um etwa Eigenes darin zu sagen, denn ich empfinde die Form der Symphonie nicht als etwas Starres, sondern als etwas höchst lebendiges, das in jedem neuen Werk neu aus dem Inhalt erwächst und deshalb, für mich wenigstens, immer neuen Anreiz zur Gestaltung bietet." So wurde ihm die "Erste" vor allem "die geistige Rückkehr zu meinen großen Ahnen", die "Vierte" erhielt vollends den bekennerischen Beinamen "Austriaca", und bis zu seiner "Neunten" setzte sich Wellesz Stück für Stück mit Facetten der symphonischen Tradition auseinander, immer zu neuen, persönlichen Antworten und zu aufregenden Lösungen findend.

Ähnliches gilt für den Bereich der Kammermusik ebenso wie für das Lied, für die Kirchenmusik ebenso wie für die Chormusik, und als der Komponist am 9. November 1974 in seinem englischen Exil starb, war den Wissenden klar, daß einer der ganz Großen der Musik des 20. Jahrhunderts seinen Abschied genommen hatte, was bis in seine späten Lebensjahre hinein auch durch zahlreiche - österreichische wie internationale - Ehrungen dokumentiert worden war. Wirklich heimisch war Egon Wellesz jedoch nach wie vor nirgendwo, weder in Österreich noch in England, weder auf den Opernbühnen noch auf den Konzertpodien. Die Jahre 1933 (bzw. 1938) bis 1945 waren damals noch nicht überwunden. Sie sind es - auch im Falle von Egon Wellesz - bis heute nicht.

Hartmut Krones


Egon Wellesz als Musikwissenschaftler
   

Im September 1904 inskribierte Egon Wellesz an der juridischen Fakultät der Universität Wien. Doch sollten auch seine musikalischen Interessen nicht zu kurz kommen. So besuchte er schon im ersten Semester neben Vorlesungen zur Rechtsgeschichte auch die grundlegende Lehrveranstaltung von Guido Adler, nämlich die "Übungen im musikhistorischen Institut - Erklären und Bestimmen von Kunstwerken". Ab dem zweiten Semester wechselte Wellesz dann ganz zur philosophischen Fakultät, wo er bis zum Abschluß seines Studiums auch Vorlesungen zur Kunstgeschichte, Theatergeschichte, aber auch zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte besuchte.

Bei Adler belegte er weiterhin die Übungen im Musikhistorischen Institut sowie
Vorlesungen zur Wiener klassischen Schule, zur musikalischen Romantik und zu Beethoven. Wellesz berichtet über das Studium: "Es gab keinen festen Lehrplan, wenn jedoch ein Student von Professor Adler aufgenommen war, hatte er an den Vorlesungen und Seminarübungen teilzunehmen. Adler empfahl ihm, sich im ersten Jahr mit der musikwissenschaftlichen Literatur vertraut zu machen und die Musik der Meister des Mittelalters bis zur Gegenwart zu studieren. Vom zweiten Jahr an mußten sich die Studenten genauer mit einer bestimmten Periode der Musik befassen und sich mit dem Professor über ein Thema für die Doktordissertation beraten, das meistens auch eine Kenntnis der historischen Hilfsfächer wie beispielsweise Paläographie, Archivkunde, Liturgiegeschichte, Kunstgeschichte oder Theatergeschichte erforderte ..."

Wellesz hörte Lehrveranstaltungen über Tabulaturen bei Adolf Koczirz sowie
Mensuralnotation bei Oswald Koller, belegte den Kurs über Basso continuo bei Erwin Luntz sowie über Paläographie bei Hans Hirsch. Neben den musikwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen widmete sich Wellesz seinen verschiedenen Interessen und Fachgebieten, die später sowohl für sein wissenschaftliches aber vor allem auch für sein kompositorisches Schaffen von großer Bedeutung werden sollten. So besuchte er Vorlesungen zur Geschichte der venezianischen Malererei sowie zur Kunst in Venedig, inskribierte Lehrveranstaltungen zu Platon, Aristoteles, Hegel, Schopenhauer, Dante, zur griechischen und römischen Literatur sowie zum attischen Drama, aber auch zur Geschichte Österreichs.

1908 promovierte Wellesz mit einer Arbeit über Leben und Werk des Gluck-Zeitgenossen Giuseppe Bonno, die im folgenden Jahre in den "Sammelbänden der Internationalen Musikgesellschaft" publiziert wurde. Im Sommer desselben Jahres heiratete Wellesz und verbrachte im Herbst 1908 einige Wochen in Venedig, die er - im Anschluß an seine Dissertation - zu Forschungen zur venezianischen Oper und speziell zu Francesco Cavalli nützte. Da Adler gegen eine Herausgabe der Oper "L'Egisto" von Cavalli im Rahmen der "Denkmäler der Tonkunst in Österreich" war, edierte Wellesz "Costanza e fortezza" von Johann Joseph Fux. Die venezianischen Studien mündeten 1913 in die Habilitation über "Cavalli und der Stil der venetianischen Oper von 1640-1660". Die Frühgeschichte der Oper in Wien war für Wellesz aber noch weiterhin von Interesse. Und als Dozent am Institut für Musikwissenschaft konnte er sein Wissen und seine Forschungserkenntnisse an die Studenten in Vorlesungen weitergeben.

Neben seiner Lehrtätigkeit an der Wiener Universität unterrichtete Wellesz von 1911 bis 1915 auch als Lehrer für Musikgeschichte am Neuen Wiener Konservatorium, hielt Vorlesungen an der Urania sowie "6 Vorträge über Operngeschichte an der Musikhochschule Mannheim" und war 1919/20 als Musikkritiker bei der Zeitung "Der Neue Tag" tätig. 1909 veranstaltete Guido Adler anläßlich Haydns 100. Todestag einen Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft in Wien, bei dem Wellesz den französischen Musikhistoriker Jules Écorcheville, den Herausgeber der "Revue Musicale S. I. M.", kennenlernte. 1911 hielt er beim Kongreß der "Internationalen Musikgesellschaft" in London einen Vortrag über die Aussetzung des Basso continuo in der italienischen Oper.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges begann sich Wellesz, der wegen einer vorangegangenen schweren Operation für den Frontdienst untauglich war und deshalb in seiner Stellung als Universitätsdozent belassen wurde, intensiv mit gregorianischen Melodien zu beschäftigen. 1915 erschien der erste Aufsatz zu dieser Thematik, 1931 wurde die Reihe "Monumenta Musicae Byzantinae" ins Leben gerufen, 1932 das Institut für Byzantinische Musik an der Österreichischen Nationalbibliothek gegründet. An der Universität hielt Wellesz zahlreiche Lehrveranstaltungen zu byzantinischer Musik und Notation.

Auch wenn nun die byzantinische Kirchenmusik im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses stand, äußerte sich Wellesz doch noch zu anderen Themen. So
z. B. über seinen Lehrer Arnold Schönberg, über den er 1921 die erste größere und zugleich verläßliche Würdigung herausbrachte, oder in einem Buch über "Die neue Instrumentation" (1928/29). 1932 war Wellesz gemeinsam mit Béla Bartók als Delegierter beim Congrès de Musique Arabe in Kairo. Im selben Jahr wurde ihm das Ehrendoktorat der Universität Oxford, als erstem Musiker nach Haydn, verliehen, und er wurde zum Ehrenmitglied der "Musical Association" in London ernannt. An der Universität Wien wurde er 1929 außerordentlicher Professor für Musikwissenschaft.

Über Amsterdam emigrierte Wellesz 1938 nach England, wo sich ihm zunächst Gelegenheit zur Mitarbeit an "Grove's Dictionary of Music" bot. Dann hielt er Vorlesungen in Cambridge und wurde schließlich am 1. Jänner 1939 zum "Fellow" am Lincoln College in Oxford ernannt, wo er bis zu seinem Tode tätig war. Dort waren die Verhältnisse in der musikwissenschaftlichen Lehre allerdings völlig anders als in Österreich. Wellesz schreibt darüber: "In Oxford hingegen gab es zur Zeit, als ich hinkam, keine musikgeschichtliche Forschung, man lernte genau so viel Musikgeschichte, als zur Ausbildung des Musikers nötig war ... Es spricht für die Großzügigkeit der sich selbst verwaltenden Universität Oxford, daß mir Gelegenheit geboten wurde, sowohl Komposition zu unterrichten wie Vorlesungen über mein Spezialgebiet, die Musik des frühen Christentums, byzantinische Kirchenmusik und den Gregorianischen Choral zu halten ..." Auch wenn er 1946 die britische Staatsbürgerschaft erhielt, so setzte er sich weiterhin für die Musik seines Heimatlandes ein, wie etwa für die Werke Bruckners und Mahlers in Rundfunkvorträgen. Andererseits publizierte Wellesz auch immer wieder Beiträge in der "Österreichischen Musikzeitschrift", so etwa 1946 über "Musik in England".

Nach dem Krieg sah das offizielle Österreich sichtlich keine Veranlassung, Wellesz in seine vorher innegehabte Stellung als Universitätslehrer zurückzuholen. Trotzdem kam er immer wieder zu Besuch in seine Heimat und er wurde zumindest u. a. mit dem Preis der Stadt Wien (1953), dem Großen goldenen Ehrenzeichen der Republik Österreich (1959), dem Großen Österreichischen Staatspreis (1961) und schließlich mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (1971) geehrt.

Andrea Harrandt


Byzanz, die Byzantinische Musik und Egon Wellesz

  Fragt man ein historisch interessiertes Publikum nach seinen Vorstellungen von "Byzanz", so wird man, insbesondere bei spontanen Antworten, zumeist mit Begriffen wie Orthodoxie, christliches Kaisertum (in römischer Tradition), griechische Handschriften, Kunst der Mosaiken und Ikonen, aber auch mit Kulturphänomenen wie dem Ikonoklasmus konfrontiert. Zeitlich wird Byzanz in der Regel zwischen der Spätantike und der Neuzeit eingeordnet, und räumlich assoziiert man es mit Konstantinopel.

Das allgemeine Verständnis von "byzantinischer Musik" dürfte mit diesen Definitionsansätzen nur teilweise in Übereinstimmung zu bringen sein, denn auch für den Musikinteressierten verbindet sich mit der Bezeichnung "byzantinische Musik" zunächst eine allgemeinere Vorstellung von der Kirchenmusik der Orthodoxie, näherhin vom weihevollen liturgischen Gesang der Kirchen des "Ostens", also vornehmlich Griechenlands, Rußlands und der Ukraine sowie der orthodoxen Bal-kanländer, und zwar in seinen uns vertrauten, oftmals mehrstimmigen Erscheinungsformen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Hier nun kommt, aus der Sicht der Byzantinistik, Egon Wellesz eine Schlüsselrolle bezüglich des Verständnisses der byzantinischen Musik zu: Dadurch, daß es ihm ab 1916 (etwa gleichzeitig mit dem Engländer H. J. W. Tillyard und doch unabhängig von diesem) schrittweise gelang, die byzantinische Notenschrift in ihrer Entwicklung seit dem 9. Jahrhundert immer besser zu verstehen, eröffnete er gemeinsam mit diesem Gelehrten und mit dem Dänen Carsten HØeg den Weg zur wissenschaftlichen Erforschung und Rekonstruktion der byzantinischen Musik. Seither sehen wir die Unterschiede zwischen der Musik von Byzanz, zwischen dem kirchlichen und weltlichen, im kaiserlichen Hofzeremoniell oftmals von der Orgel begleiteten Gesang der Byzantiner, und dem heutigen, zumeist ausschließlich von der menschlichen Stimme getragenen Kirchengesang der Orthodoxie viel klarer.

Welche Fortschritte die byzantinische Musikologie seit damals gemacht hat, kann man an den mustergültigen Publikationen der von den drei genannten Gelehrten 1931 in Kopenhagen gegründeten Reihe "Monumenta Musicae Byzantinae" ablesen, aber auch - in verständlicher und knapper Form - an einem bemerkenswerten, jüngst erstmals von Gerda Wolfram publizierten und kommentierten Selbstzeugnis von Egon Wellesz, einem Vortrag über "Byzantinische Musik", der sein byzantinistisches Lebenswerk aus der Retrospektive der frühen Sechzigerjahre zusammenfaßt und zugleich aus der heutigen Sicht schön dokumentiert, wie sehr die moderne Erforschung der byzantinischen Musik in vieler Hinsicht auf Wellesz beruht, wie bleibend und zukunftweisend seine Erkenntnisse sind.

Egon Wellesz war, wie im Titel der Ausstellung zum Ausdruck kommt, sowohl Musiktheoretiker, Musikhistoriker und Byzantinist als auch - und nicht zuletzt - Komponist. So darf man die legitime Frage stellen, ob es zwischen der Produktivität des Wissenschaftlers und des kreativen Künstlers Egon Wellesz Verbindungslinien gibt, mit anderen Worten, ob er Kompositionen mit einem direkten Bezug zu Byzanz schuf. Zwei Spätwerke (op. 100 und 101) erlauben es, im Hinblick auf ihre inhaltliche Aussage und ihren Bezug zur orthodoxen Liturgie, darauf eine eindeutig positive Antwort zu geben:

Das erste Werk ist das "Festliche Präludium für Chor und Orgel über ein byzantinisches Magnificat" (wohl nicht zufällig opus 100), komponiert anläßlich der Eröffnung des XIII. Internationalen Byzantinistenkongresses in Oxford am 5. September 1966. Wellesz vertonte das in alttestamentlicher Tradition stehende Magnificat, den Jubelhymnus Mariens während ihres Besuches bei Elisabeth - "Hoch preist meine Seele den Herrn, und mein Geist frohlockt in Gott, meinem Heiland" - nach dem lateinischen Text des Lukas-Evangeliums. In griechischer Sprache ist das Magnificat als letzter Hymnus des "Neun-Oden-Kanons" seit frühchristlicher Zeit Bestandteil des Morgenoffiziums (Orthros) der orthodoxen Liturgie.

Als zweites ist hier das nur ein Jahr später komponierte und thematisch nahestehende
"Mirabile Mysterium" für Soli, Chor und Orchester (opus 101) zu nennen, das in sieben Gesänge untergliedert ist. Der Komponist hat dem Werk einen zweisprachigen Text zugrundegelegt, wobei die deutsche Sprache dominiert und als Verständnisträger dient. Demgegenüber sollen die griechischen Partien (Sopran und teilweise Chor) stets "von Fern" (so die kompositorische Anweisung) erklingen und die fremdartig-feierliche Atmosphäre unterstreichen. Wellesz griff bei diesem Text auf wörtliche Ausschnitte aus dem weihnachtlichen "Troparium horarum" zurück, das dem Patriarchen Sophronios von Jerusalem († 638) zugeschrieben wird und (in leicht modifizierter Form) unter dem 24. Dezember in das orthodoxe liturgische Buch der Menäen Aufnahme fand.

Über die Entstehungszeit hinaus verbindet die beiden Chorwerke die thematische Zusammengehörigkeit im Mysterium der Menschwerdung Gottes, ein zentrales theologisches Thema, mit dem sich Wellesz als Byzantinist und Musikologe lange Zeit auseinandergesetzt hat, wie etwa der Titel eines wichtigen Artikels von ihm bezeugt ("The Nativity Drama of the Byzantine Church"), der 1947 gedruckt wurde. Wellesz's byzantinische Interessen sind also nicht nur als isoliertes Kuriosum oder als Extravaganz eines vielseitig Begabten zu betrachten, sie stehen vielmehr in engem Zusammenhang mit den kompositorischen und musiktheoretischen Facetten seines Schaffens und sind von der Gesamtpersönlichkeit Egon Wellesz nicht zu trennen.

Johannes Koder

 

http://www.egonwellesz.at